[18 GESCHICHTEN: DER FUß]


Auf seinem Heimweg fand Pjotr Semjonowitsch einen Fuß, hübsch verpackt und gut erhalten, geradezu wie neu. Fein, ein Fuß, dachte Pjotr Semjonowitsch. Er hob ihn auf und trug ihn nach hause.
Olga Nikolajewna, schau, was ich dir mitgebracht habe, begrüßte er seine Frau.

Einen Fuß? fuhr sie ihn an und warf den Besen in die Ecke. Was soll ich denn mit einem Fuß, du Taugenichts? Siehst du nicht, dass ich schon zwei habe? Und sie hielt ihm beide Füße unter die Nase. Gefallen dir meine Füße etwa nicht, dass es unbedingt neue sein müssen? Schlag dir das aus dem Kopf oder finde beim nächsten Mal gleich eine Frau dazu, die deinen Fuß besser gebrauchen kann als ich! Einen neuen Kopf hättest du finden sollen, und zwar für dich! Das ist ja nicht zum Aushalten mit dir! Seit Wochen erkläre ich dir, dass meine Knie ruiniert sind vom ewigen Treppensteigen, wir müssen ja unbedingt im fünften Stock wohnen in einem Haus ohne Aufzug! Einen Balkon hattest du mir versprochen, einen Balkon! Statt dessen haben wir nicht einmal einen Park in der Nähe, geschweige denn Sonne zum Abendessen! Zwei neue Arme hätte ich mal dringend nötig, bei der Plackerei, die man mit dir hat! Ständig muss man dir etwas hinterherräumen, weil alles herumliegt und nichts gefunden werden kann, wenn man es braucht! Diese Unordnung in diesem Haus bringt mich noch um den Verstand! Nein, was schleppst du hier an? Zeig ihn mal her, deinen Fuß! Das hab ich mir gedacht! Lackierte Nägel! Das hättest du dir vorher überlegen sollen! Kommst daher mit so einem Fuß von irgend so einer, die ihr Geld für Pediküre zur Veranda herrausschleudert! Nicht einmal eine Strumpf trägt diese impertinente Person! Behalt ihn, deinen nagelneuen Fuß! Nicht für mich, pah! Als gäbe es weiß Gott nichts Dringenderes zu besorgen! Zwiebeln, Zahnpasta, Zellstofftaschentücher, hab ich heut gesagt solltest du mitbringen, und was hast du dabei? Scher dich zum Zacharias mit deinem Fuß! Olga Nikolajewna ergriff einen Lappen und wandte sich entrüstet dem Bad zu.

Pjotr Semjonowitsch stand betreten und hilflos herum. Er hatte gegen den Fuß nichts einzuwenden, ob er nun lackiert war oder nicht. Er hatte auch gegen Olgas Füße nichts einzuwenden, er hatte nur eben einfach einen Fuß gefunden, der ihm gefiel. Warum ihn nicht verschenken, wenn er doch schön war?
Mein Mütterchen wäre auf ihre alten Tage froh über einen Fuß gewesen, so hätte sie wenigstens einen gehabt, versuchte er sich zu verteidigen.

Gleich tret ich dich mit deinem Fuß in deinen Hintern, wenn du nicht sofort still bist! dröhnte Olgas Stimme aus der Klomuschel. Schaff ihn mir augenblicklich aus dem Haus! Sie drohte ihm mit der Faust, in der der Lappen zappelte.

Pjotr Semjonowitsch ging betrübt ein paar Straßen. Dann wusste er nicht weiter, stellte den Fuß hin und scheuchte ihn weg. Na hopp, los, mach dich davon! Husch!
Da seine Bemühungen wenig Bewegung des Fußes hervorriefen, ließ er ihn einfach stehen und suchte Michail Fjodorowitsch auf, um diesem sein Leid zu klagen, einen so schönen Fuß auf der Straße zurück lassen zu müssen. Auf halbem Wege kehrte er aber um, da er es nicht übers Herz brachte, den Fuß so mir nichts dir nichts in der Wildnis auszusetzen.

Michail Fjodorowitsch war ganz begeistert von dem Fuß. Obwohl er anmerken musste, dass er bereits ein bisschen zu riechen begonnen hatte.
Pjotr Semjonowitsch hatte das auch schon bemerkt, es aber für seinen eigenen Geruch gehalten.

Michail Fjodorowitsch hatte zum Glück frische Zitronen im Haus. Sie trugen den Fuß in die Küche, um ihn erst einmal gründlich zu waschen. Die Köchin, eine alte, aber gutgläubige Frau aus dem Umland, erschrak beim Anblick des Fußes und wollte die Polizei rufen. Michail Fjodorowitsch und Pjotr Semjonowitsch konnten sie aber von ihrer beider Unschuld überzeugen, dass sie sich beruhigte. Gemeinsam massierten sie den frisch gereinigten Fuß, rieben ihn mit Speck ab, dass er hübsch glänzte, und träufelten zum Schluss frisch gepressten Zitronensaft über ihn, dass er gut duftete. Jetzt fand ihn auch die Köchin von einzigartiger Schönheit. Ihr fiel auf, dass der Nagellack sehr teuer war, nur in ausgesuchten Drogerien erhältlich. Ein solcher Fuß ist goldwert, sagte sie bedeutsam und wog ihn nachdenklich in ihren faltigen Händen.

Pjotr Semjonowitsch war hocherfreut, den Fuß nicht einfach so der Straße überlassen zu haben.

Was wirst du mit deinem Fuß nun machen, fragte Michail Fjodorowitsch, und besah ihn von allen Seiten.

Ich weiß nicht genau, antwortete Pjotr Semjonowitsch. Meine Olga Nikolajewna mochte ihn nicht besonders, nach hause werde ich ihn nicht wieder mitnehmen können.

Lass ihn doch eine Weile bei mir, ich werde ihn für dich pflegen und aufbewahren, dann wird sich etwas für ihn finden, sagte Michail Fjodorowitsch.

Ich werde ihn großziehen! rief die Köchin.

Das möchte ich eigentlich..., ehrlich gesagt, überlegte Pjotr Semjonowitsch. Es ist eigentlich, dass... ich weiß nicht... ich glaube...
Eine lange Pause entstand.
Ja, ich glaube, Michail Fjodorowitsch, sagte er dann bestimmt, ich glaube, ich habe mich in ihn verliebt.

Michail Fjodorowitsch bog sich vor Lachen. Die alte Köchin schlug die Hände über den Kopf. Der Fuß in Pjotr Semjonowitschs Händen aber bewegte plötzlich seine Zehen.

Ha, erschrak Pjotr Semjonowitsch, er hat mich gekitzelt!
Der Fuß sprang zu Boden und hopste aus dem Zimmer. Pjotr Semjonowitsch und Michail Fjodorowitsch blickten erstaunt dem Fuß nach, der an der Wohnungstür auf und ab hüpfte, da er nicht hinaus kam.
Die Köchin bekreuzigte sich eilig.
Da hast du dir ja was Schönes eingehandelt, mein Lieber, sagte Michail Fjodorowitsch.
Pjotr Semjonowitsch erwiderte: Ich glaube, er möchte ein bisschen spazieren gehen.
Dann lass uns das tun, sagte Michail Fjodorowitsch, aber ich habe keine Leine.
Ich hab zu tun, rief die Köchin und verschwand im Bad.

Sie gingen durch das Viertel, der Fuß sprang vorneweg, die beiden Freunde liefen hinterdrein. Auf dem Spielplatz sprang der Fuß auf die große Rutsche und sauste mehrmals fröhlich herunter. Ein kleines Mädchen rannte heulend zur Mama: Er ist mir auf den Fuß getreten! Der Fuß tollte ausgelassen und warf Sand umher. Pjotr Semjonowitsch hatte alle Hände voll zu tun, ihn vom Spielplatz zu holen. Sie gingen weiter, der Fuß immer voraus. Der Spaziergang dauerte länger, als Pjotr Semjonowitsch und Michail Fjodorowitsch eigentlich unterwegs sein wollten. Dann schien es, als suchte der Fuß etwas. Überquerte er Straßen, blieb er stehen und schaute, ob ein Auto käme, dann erst sprang er schnell er auf die andere Seite. Kam ein Auto, ging er einen Schritt von ihnen weg. An Ampeln wartete er vorbildlich. Als er in eine Straßenbahn Richtung Stadtpark hastete, eilte Pjotr Semjonowitsch hinterher, gerade noch rechtzeitig, der Fahrer schimpfte. Michail Fjodorowitsch, der auf diesen Sprint keine Lust hatte, verabschiedete sich winkend und keuchend von seinem Freund. Erschöpft und erleichtert setzte sich Michail Fjodorowitsch in die nächstbeste Kneipe, um sich den Kopf leer zu trinken. Erst im Morgendämmer fand er zu sich nach hause zurück, schwankte ordentlich, hopste mehrmals auf einem Bein und kicherte immerzu. Die Köchin empfing ihn mit Sorge, weniger wegen seines Alkoholgeruchs, vielmehr aufgrund beunruhigender Nachrichten aus dem Radio. Ein junger Mann, der einen Fuß bei sich führte, sei in der Nacht verhaftet worden. Der Fuß passe exakt zu einer Frauenleiche, die im Stadtpark gefunden wurde und deren linker Fuß sowie die linke Hand fehlten. Ob es sich bei dem verhafteten jungen Mann um den Mörder handle, sei bisher nicht einwandfrei festzustellen gewesen. Er habe jede Aussage verweigert bzw völlig unverständliche Dinge von sich gegeben. Von der Hand aber fehle jede Spur.

Schlagartig war Michail Fjodorowitsch nüchtern und beeilte sich, ins Polizeipräsidium zu kommen. Erst nach einigen Stunden und nur durch sein beharrliches Drängen wurde er bis zu Pjotr Semjonowitsch vorgelassen, der steif auf einem Stuhl saß. Ein Beamter stand neben, ein anderer hinter ihm.

Michail Fjodorowitsch kam ohne Ergebnis zurück. Der Köchin berichtete er, was ihm vom ermittelnden Kommissar mitgeteilt wurde, da Pjotr Semjonowitsch in Apathie verfallen war. Dass nach Pjotr Semjonowitschs Aussage der Fuß ihn bis in den Park zur Leiche geführt, von wo aus er selbst die Polizei gerufen und den grausamen Fund berichtet habe. Der Fuß sei dann sofort wieder steif geworden und habe den gleichen Geruch angenommen, wie er, Michail Fjodorowitsch, ihn hier bemerkt hatte, bevor sie ihn mit Zitronensaft behandelt hätten. Eine erste Untersuchung der Leiche habe ergeben, dass sie erstochen worden sei. Wer die Ermordete wäre, warum Fuß und die verschwundene Hand abgetrennt wurden und von wem, wo die Tatwaffe sei und welches Motiv zur Tat geführt habe, darüber bestünde nach wie vor Unklarheit. Michail Fjodorowitsch hatte alle Angaben Pjotr Semjonowitschs, die dieser zu seiner Person getan hatte, bestätigt, so unglaublich sie auch geklungen hatten, konnte sich allerdings nicht dafür verbürgen, dass Pjotr Semjonowitsch keinesfalls der Täter sei, da er ihm bereits mit dem Fuß in der Hand begegnet war. Auch Pjotr Semjonowitschs Frau Olga Nikolajewna konnte oder wollte nur eindeutig bezeugen, dass Pjotr Semjonowitsch, der bis auf weiteres dringend tatverdächtig sei und daher inhaftiert bleiben müsse, mit dem entsprechenden Fuß in der Hand, der damals sogar noch mit etwas Papier und Folie eingewickelt gewesen sein soll, nach hause gekommen war. Das Papier und die Folie seien allerdings verschwunden. Man habe Michail Fjodorowitsch und Olga Nikolajewna den Besuch einer psychiatrischen Einrichtung empfohlen, werde sie darüber hinaus aber nicht mehr benötigen.

Michail Fjodorowitsch und seine Köchin machten sich so ihre Gedanken. Er ging zu Olga Nikolajewna, um sie zu trösten, da sie über den seltsamen Verlust ihres bisher so braven Mannes zutiefst unglücklich war. Sie erklärte sich einverstanden, bis zum Ende der Untersuchungen und des in Aussicht stehenden Prozesses in Michail Fjodorowitschs Wohnung zu leben, da sie die Einsamkeit in ihrer eigenen nicht ertrug. Außerdem wohnte Michail Fjodorowitsch im zweiten Stock und hatte einen Balkon mit Sonne.

Die Sache zog sich in die Länge. Der Fuß hatte mittlerweile fliehen können und blieb so spurlos verschwunden wie die fehlende Hand. Die verstümmelte Leiche wurde noch im Kühlhaus aufbewahrt und durfte bis zum Abschluss des Verfahrens nicht begraben werden. Pjotr Semjonowitsch lebte in einem gesonderten Gefängnis für geistig Behinderte und schwieg.

Nach einigen ergebnislosen Jahren der Ermittlung und Grübelei kamen alle gemeinsam, aber unabhängig zu dem Schluss, dass das Ganze weder Hand noch Fuß hatte, und ließen es dabei bewenden. Die Leiche, die nie identifiziert und offenbar auch von keinem vermisst wurde, hatte man in der Zwischenzeit begraben. Olga Nikolajewna und Michail Fjodorowitsch zogen offiziell zusammen und heirateten fünf Monate vor dem bedauerlichen Tod der treuen Köchin. Der Stadtpark, nach dem Leichenfund ein gemiedener Ort, bevölkerte sich und alles wurde wieder gut.

Zwanzig Jahre später fand ein kluges Kerlchen folgendes heraus:

1.) Pjotr Semjonowitsch hatte nichts mit der Sache zu tun, weshalb er unverzüglich frei zu lassen sei, falls er noch lebe.

2.) Die Leiche war echt, aber nicht ihr Fuß. Bzw jemand hatte sich mit Pjotr Semjonowitsch einen üblen Scherz erlaubt. Eigentlich war es eine Intrige, die darin bestand, ihn mittels einer geschickt konstruierten Maschine in Fußform aus seinem Lebensmittelpunkt zu reißen. Das Motiv ist höchst wahrscheinlich Neid, denn Pjotr Semjonowitsch war ein sehr glücklicher Mensch gewesen, wenn auch auf sehr niedrigem Niveau.

3.) Außer Neid war auch noch Liebe im Spiel.

4.) Das Kommissariat und die zuständigen Behörden hatten mal wieder geschludert, wofür sie zur Verantwortung gezogen werden müssten.

5.) Der Mord hätte aufgeklärt werden können.

6.) Die Straßenbahnlinie Richtung Stadtpark gab es nie, gibt es nicht und wird es nicht geben, wurde mir von behördlicher Seite versichert.

7.) Pjotr Semjonowitsch war ein minderbemittelter, leicht- und gutgläubiger, aber von der Aufrichtigkeit der guten Sache überzeugter Mensch gewesen, der leicht zu beeinflussen und zu täuschen war. Die wenigsten wussten, dass er Fußfetischist gewesen war, aber dafür kann man eigentlich niemand einen Vorwurf zu machen.

8.) Die Intrige gegen Pjotr Semjonowitsch hatten seine ehemaligen Arbeitskollegen eingefädelt und durchgeführt, da der Betrieb, in dem er gearbeitet hatte, eine hochrentable Maschinenschlosserei, nach Pjotr Semjonowitschs Verhaftung sehr rasch und vom eigenen Vorstand abgewickelt wurde, und die Belegschaft allerhöchste Abfindungen und Renten erhielten. Zu Zeiten Pjotrs Beschäftigung hatte er sich stets gegen ein solche Interpretation des Begriffes VolksEigener Betrieb gewehrt. Er muss wirklich äußerst dumm gewesen sein.

9.) Michail Fjodorowitsch und Olga Nikolajewna waren und sind ein glückliches Paar, das sollte man respektieren.

10.) Sie wussten beide nicht und wissen bis heute nicht, dass Pjotr Semjonowitsch seinen Fußfetischismus in gelegentlichen Nachtbarbesuchen auslebte, wofür er akribisch sparte, was er, wie wir wissen, einfacher hätte haben können. In einer der Bars hatte er eine wunderschöne Tänzerin kennengelernt, deren Füße dem gefälschten, intriganten sehr glichen. Wahrscheinlich war die Tänzerin das bisher unidentifizierte Opfer der bösartigen Intrige.

11.) Pjotr Semjonowitsch war ihr verfallen, sie aber nicht ihm.

12.) Der Mörder war die alte, aber gutgläubige Köchin Michail Fjodorowitschs, denn diese war selbst verfallen, zudem Pjotr Semjonowitsch, wovon dieser nichts wusste und sein Freund Michail Fjodorowitsch auch nicht.

13.) Die Intrige ist eigentlich ziemlich albern.

14.) Genauso wie die Namen der beteilgten Personen.

15.) Pjotr Semjonowitschs Frau Olga Nikolajewna und sein Freund Michail Fjodorowitsch sind insgesamt nicht wesentlich klüger als Pjotr Semjonowitsch selbst es gewesen war, sie hatten einzig das Glück, nicht in Pjotr Semjonowitschs Betrieb zu arbeiten, was ihnen die originäre Begegnung mit dem falschen Fuß ersparte.

16.) Bis auf Pjotr Semjonowitsch, die unbekannte tote Tänzerin mit den schönen Füßen und Michail Fjodorowitschs tote Köchin sind alle Beteiligten glücklich.

17.) Die Sache, die Leiche nämlich, hatte Hand und Fuß, aber das ist lange her.




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© sascha preiß 2003