[18 GESCHICHTEN: DAS DICKE KIND]


Letzte Nacht hab ich was von Hühnern geträumt. Und dicken Eiern. Es war ein kleines bisschen grausam. Ach du dickes Ei, dachte ich. Dann bin ich ganz normal aufgestanden, habe gefrühstückt und fuhr zur Uni. Es war etwa halb zehn. Die Station ist um diese Uhrzeit immer recht leer, dafür sind die U-Bahnen umso voller. Man trifft darin Leute, die man noch nie gesehen hat und die man nie wieder sehen wird. Ein dickes Kind stand abseits von anderen Kindern auf der Station. Die kommen immer aus der Schule um die Ecke und sind dann laut. Dass sich Kinder immer anschreien müssen. Das dicke war ganz für sich und schwieg. Dann stieg es in meinen Waggon ein, die anderen gingen alle in den davor. Es war eng und stickig, alle Leute schwitzten, manche rochen besonders. Zwei Stationen später drängelten sich alle durch die Türen hinaus, um sich gleich wieder durch die Türen eines anderen Waggons, eine Rolltreppe tiefer, hineinzudrängeln. Das dicke Kind drängelte ganz besonders. Dicke Menschen, zumal wenn sie dann auch noch klein sind, was oft zusammen anzutreffen ist, drängeln eigentlich immer und gucken dazu grimmig. Ich weiß nicht, warum die das müssen. Genauso wie sie meist ganz dicke Bücher lesen. Ich hab aber auch schon ganz dünne Menschen gesehen, die ganz dicke Bücher gelesen haben. Und umgekehrt. Wobei mir aufgefallen ist, dass Männer umgekehrt lesen, Frauen hingegen gleich: Dicke Frauen lesen immer dicke Bücher, dünne Frauen hingegen immer dünne, und bei Männern ist es eben immer genau umgekehrt, dick liest dünn und dünn dick. Oder gar nicht. Das dicke Kind neben mir las gar nicht. Sein Rucksack war auch ganz dick, mit dem drängelte es immerzu. Ich hätte gern mal wieder in so einen Schulkindrucksack hineingesehen. Aber ich musste schon wieder umsteigen. Auch die Waggons dieser Linie waren ganz voll. Als ich dann schließlich an der Uni ankam, stieg aus der U-Bahn auch das dicke Kind aus. Ich war ganz überrascht, denn was macht so ein Schulkind von der Schule bei mir um die Ecke hier draußen? Das beschäftigte mich nur wenige Momente, denn ich ging zur Uni. Die Vorlesung war auch ganz voll, jedenfalls voller als sonst, was mich veranlasste zu überlegen, ob die Leute aus der U-Bahn von der Station bei mir um die Ecke bis hier in die Vorlesung alle die selben gewesen sind, weil es ja bisher überall voll war. Und tatsächlich traute ich meinen Augen nicht: Das dicke Kind saß vor mir auf einem Platz, im Annorak und mit dem dicken schwarzen Rucksack auf dem Rücken. Nun, dachte ich mir, vielleicht geht es ja gar nicht zur Schule, wie ich dem Kind unterstellt habe, sondern ist ebenso Student wie ich und all die anderen im Raum, auch wenn es ganz zweifellos nicht so aussieht, als wäre es schon in dem Alter. Ich würde es auf vielleicht maximal vierzehn Jahre geschätzt haben. Andererseits hatte ich auch schon von Wunderkindern gehört und gelesen, die mit zehn auf die Uni gingen und mit dreizehn ihren Doktor machten. Dieses da vor mir könnte ja so ein überintelligentes Kind sein, dicke Kinder neigen ja oftmals entweder zur allergrößten Blödheit oder aber zur allergrößten Klugheit, jedenfalls zu nichts Durchschnittlichem. Auch wenn man dazusagen muss, dass die Wunderkinder heutzutage ja alle aus Japan oder Amerika kommen. Und dieses sah zumindest nicht sehr japanisch aus. Und falls es aus Amerika kam, was machte es dann hier? Jedenfalls, und das bemerkte ich im Laufe der Vorlesung, schien es trotz all meiner Überlegungen überhaupt nichts zu studieren, denn es saß die ganze Vorlesung ganz unverändert auf seinem Platz, ohne den Rucksack oder den Annorak abzulegen oder gar etwas mitzuschreiben. So intelligent kann selbst ein amerikanisches Wunderkind nicht sein. Einmal drehte es sich allerdings um und lächelte mich an. Oder es schien mir so. Vielleicht hat es auch ganz wen anderen angelächelt, der zufällig hinter mir saß, aber ich hab mich doch nicht selbst umgedreht. Nach der Vorlesung war es dann sehr schnell irgendwohin verschwunden und in den überfüllten Gängen kam mir jede Suche aussichtslos vor. Zumal ich nicht wusste, warum ich nach dem Kind suchen sollte. Vielleicht oder sogar wahrscheinlich arbeitete Mutti oder Vati in der Uni und der Sohnemann hatte irgendwas hinzubringen oder abzuholen oder was weiß denn ich. Es war jedenfalls weg und auch im Seminar und in der Mensa traf ich es nicht mehr. Die Uni war an diesem Tag besonders voll, durch die engen Gänge kam man nur sehr langsam und in der Mensa gab es schon fast nichts mehr zu essen. Zum Glück hatte ich aber ein paar Wege entdeckt, auf denen man schneller vorwärts kam. Besonders für den dringenden Gang auf Toilette erwiesen sich diese Sonderwege als äußerst hilfreich, auch wenn Unkundige sich darin verirren konnten. Damals, vor einigen Jahren, als ich diese Gänge unterhalb des eigentlichen Unigebäudes entdeckte, fand ich mich auch kaum zurecht und musste dann notgedrungen in irgendeine Ecke pinkeln. Zum Glück kam hier selten jemand lang. Und die Gänge sind seltsam schwach beleuchtete Gewölbe, die mit jeder Menge Schließfächer vollgeräumt sind, in denen allerlei Unrat lagert. Die Fächer sind zumeist unverschlossen, man findet von Perücken über Autoersatzteile alles, bis hin zu seltsamen Apparaturen, Ordner und Grasbüschel, selbst miniaturisierte Landschaften und Modelleisenbahnen sind hier aufbewahrt, für wen, warum, ist mir vollkommen unklar. Ich bin mir sicher, dass da noch ganz andere Dinge drin sind, man hört ja recht häufig, dass Leute einfach so verschwinden. Wenn die Schließfächer fehlen, sind die obligatorischen Rohre und Kabelkanäle an den Wänden zu finden. Wenn man hier runterkommt, etwa bei der Mensa, und auf der Suche nach einem schnellen Weg zum Klo ist, an diesem dann aber vorbei geht, glaubt man sich in ganz gewöhnlichen Kellergewölben ganz gewöhnlicher Wohnhäuser. Es ist feucht, Spinnweben an den Decken, vergitterte Lampen glimmen über den Durchgängen. Die Wände sind kaum mehr verputzt und der Boden ist von schwärzlich-sandiger Beschaffenheit. Dass diese Gänge allerdings frequentiert sind, obwohl sie sehr leer scheinen und das ganze Gegenteil der übervollen Gänge des Lehrgebäudes über ihnen sind, zeigen besonders aufgebrochene Schließfächer mit verbogenen Türen und jede Art von Malereien und diverse Sprüche an den bröselnden Wänden. Gelegentlich findet man auch einen Stuhl und-oder einen Tisch, ebenso Papier, Mitschriften aus diversen Seminaren. An einer Stelle habe ich einen größeren Sessel gefunden, darüber an der Wand einen eingravierten Penis und ein C. als Signum. Richtig still wird es hier allerdings nie, denn die Schritte aus den Gängen obendrüber hallen von überall her hier unten kräftig nach, so dass sich letztlich nicht sagen lässt, wie lang diese Gewölbe hier unten sind. Die Orte, von denen man hier hineingelangt, sind so vielfältig wie selten. Vor allem sind sie schwer zu finden. Wenn man nichts von der Existenz dieser Gänge weiß, wird man sie auch nicht unbedingt bemerken. Es sei denn, man geht an der zentralen Toilette unterhalb der Mensa den Gang einfach ein bisschen weiter durch die Tür, die immer offen ist. So fand ich sie ja damals auch. Diese Eingänge sind allerdings auch auf den zweiten und dritten Blick nicht unbedingt zu erkennen, da sie exakt an die Strukturen der Wandverkleidung angepasst sind. Auch das Abklopfen der Wände bringt nicht immer eine solche Tür zu Tage. Ich bin mir sicher, dass ich die wenigsten der vorhandenen Eingänge kenne. Die meisten Wege hier unten hab ich auch nicht erforscht, weil ich hauptsächlich immer die gleichen Wege zu gehen habe und keine große Lust verspüre, das unbedingt zu ändern. Außerdem ist das Geflecht der Wege zu verwirrend, es gibt jede Menge Treppen und Aufstiege in andere Etagen, die Wege verzweigen sich und sind aufgrund des schlechten Lichtes nicht einzusehen. Mein häufigster Weg auf ein Klo in der zweiten Etage des Seitenflügels führt über nicht weniger als sieben verschiedene Gänge, von denen im letzten auf der rechten Seite eine Leiter steil nach oben geht, an derem oberen Ende man direkt in den Klobereich einsteigen kann, wahlweise aufs Männer- oder Frauenklo. Drollig ist es, dann nicht in den Gang zurückzugehen, sondern das Klo ganz normal nach außen zu verlassen und die irritierten Gesichter vor den Waschbecken zu sehen. Man darf das aber nicht überstrapazieren und sollte immer darauf achten, die Eingänge immer nur dann zu öffnen, wenn es niemand bemerken kann. Warnhinweise diesbezüglich sind auf der Innenseite der Türen angebracht, ebenso ein kleiner, aber mit großen Gesichtsfeld ausgestatteter Spion. Mag sein, dass mein Eindruck täuscht und sich viel mehr Menschen in den verborgenen Gewölben bewegen, als es für mich den Anschein hat, aber ich glaube, es ist beinah unmöglich, hier unten jemandem zu begegnen. So wie bei diesen Wendeltreppen, die mehrere separate Aufgänge haben und die je aneinander vorbei führen. Ich jedenfalls bin hier noch nie jemandem begegnet, trotzdem ich schon mehrfach wen hier hineingehen sah. Noch nicht einmal einen der vielen Hausmeister oder eine der Putzfrauen, die die Uni beschäftigt, traf ich hier an. Dabei kann ich manchmal die Spuren von jemandem sehen, der beinah unmittelbar vor mir durch diese Gänge gegangen sein muss, denn einmal fand ich ein frisches, benutztes Kondom unter einem der Stühle, dazu eine verglimmende Zigarette. Und das habe ganz sicher nicht ich dort hingelegt. Ein einziges Mal ist mir jemand begegnet - als ich vor dem Eingang zum Archiv irgendeines unbekannten Fachbereiches stand und sich plötzlich die Tür öffnete. Das war aber auch schon alles. Hingegen deutet eine ganze Menge darauf hin, dass in einigen Gängen auch Autos fahren können, manchmal sieht man frische Reifenspuren oder Reste einer Reparatur. Sogar Gleise habe ich hier schon gesehen und an manchen Decken einen Schienenweg für geräuschlose Transporte von irgendetwas. Ich bin dann unterhalb der Bibliothek angekommen, hab dort meine Sachen in eines der Schließfächer getan und bin die kleine Treppe hinauf in die Bibliothek, um für ein Seminar was vorzubereiten. Das Schöne ist, dass man aus diesen Gängen direkt in die Bibliothek kommt, beinah wie durch die Wand oder wie durch so ein bewegliches Regal, wie man das in alten Filmen oft sieht. Der Eingang befindet sich zwischen zwei Regalen der mittelalterlichen Literatur, wo offenbar nur ganz selten jemand hinkommt, denn noch nie musste ich hinter der Tür warten, bis der Gang zwischen den beiden Regalen frei war. Da gibt es eine Tür, die zum Glück nie verschlossen ist und die man auch nur dann sieht, wenn man weiß, dass sie da ist. Die Erbauer dieser Gänge würde ich gern einmal kennenlernen. Wenn jemand mit etwas mehr krimineller Energie oder mit ausgeprägterem Geschäftsinn als ich auf diese Weise in die Bibliothek ginge, könnte derjenige unbemerkt die ganze Bibliothek ausräumen und irgendwo gewinnbringend verkaufen. Aber so einer bin ich ja nicht. An diesem Tag fand ich auf dem Platz, an dem ich sonst immer sitze, wenn ich in der Bibliothek bin, einige Bücher über Geflügelzucht und ökologische Landwirtschaft. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass derartige Bücher in der Bibliothek beherbergt werden. Eigentlich wusste ich kaum etwas über die Bibliothek, denn ich habe sie ja nur ganz selten durch den Haupteingang betreten, weil der mir immer zu voll ist und sich die Leute da hinein und hinaus drängeln. Ich kannte also nur meinen Bereich und der Rest war mir ebenso egal wie unbekannt. Aber, da mein Platz belegt war, beschloss ich, das zu ändern und ging los auf der Suche nach einem anderen Platz, quer durch die Bibliothek, die mir so unübersichtlich und groß erschien, eigentlich genauso wie die gesamten Gänge der Uni, sowohl oben als auch unten. Ich war auch gar nicht überrascht, dass ich niemandem begegnete, obwohl ich doch wusste, dass sich die Leute in die Bibliothek hinein und hinaus drängelten. Statt dessen fand ich zwischen manchen Regalen ebensolche Türen wie meine, und je mehr Regale ich fand, umso mehr Türen nach draußen fand ich dazu. Tatsächlich bestand die ganze Bibliothek nur aus Regalen, Gängen und Türen in den Wänden, manchmal auch Treppen, die zwischen den Etagen hoch und runter führten, und einige Arbeitsplätze, auf denen überall Bücher lagen. Den eigentlichen, offiziellen Eingang konnte ich allerdings nicht finden. Da ich mich offenkundig zwischen den Regalen nicht zurechtfand, ging ich durch eine der Türen nach draußen in die Gänge und versuchte nun außerhalb, im Verborgenen, zu meinem normalen Eingang zwischen der mittelalterlichen Literatur zurückzukommen. Ich hatte zwar keine konkrete Vorstellung, wo ich mich befand, aber wenigstens wusste ich, dass alle Wege unter der Mensa bei den Toiletten zusammenliefen. Und ansonsten brauchte ich mich bloß umzudrehen, um ganz sicher in der Bibliothek anzukommen. Leider ist der Empfang für Mobiltelefone in diesen Gängen zu schlecht, dass das Handy überhaupt den Geist aufgab und keine zeitliche Orientierung möglich war. Und ich hatte noch ein Seminar am Nachmittag, das ich nur ungern verpasse. Nun weiß ich, dass es das Schlechteste ist, in spärlich beleuchteten und einsamen, aber beständig geräuschigen Gewölben nervös zu werden, doch genau das geschah mir. Ich wurde sogar sehr nervös. Also ging ich schneller, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis für irgendetwas zu finden. In einem der Schließfächer, an denen ich vorbeikam, fand ich ein großes, dickes Straußenei. So dass ich annahm, nur unweit der Mensa oder zumindest der Küche zu sein. Tatsächlich führte jedoch der Gang zum Raum des Seminars, wegen dem ich in die Bibliothek gegangen war. Diese Tür allerdings war verschlossen, offenbar fand gerade eine Lehrveranstaltung statt, wahrscheinlich meine. Ich kehrte also um, sah das Ei und wusste, dass zumindest diesen Teil des Weges ich soeben gegangen war. Ob das gut oder schlecht war, konnte ich nicht entscheiden. Und dann geschah etwas, womit ich insgeheim die ganze mir unbekannte Zeit gerechnet hatte, aber es auch beim dritten Hinsehen nicht für wirklich hielt: Als ich zum Schließfach mit meinen Sachen zurückfand - wie ich das schaffte, kann ich wirklich nicht mehr sagen -, hörte ich hinter mir Schritte, ganz deutlich, dass es nur hinter mir sein konnte. Ich griff meine Sachen, drehte mich um - und das dicke Kind bog um die Ecke, drängelte an mir vorbei, öffnete die Tür und ging in die Bibliothek. Kurz darauf kam es zurück, einige sehr dicke Büchern unter dem Arm, und verschwand. Ich bin dem dicken Kind nachgelaufen. Was hätte ich sonst tun sollen? Es drehte sich manchmal zu mir um und lächelte. Diesmal bestand daran kein Zweifel, weil in den Gängen außer uns niemand war. Doch über alles das, was dann geschah - fühle ich mich nicht in der Lage zu sprechen. Es ist mir peinlich. Nur eines: Aus dicken Eiern wachsen dicke Kinder, das muss man so glauben.




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© sascha preiß 2003