[DANIIL CHARMS "DIE BEGEGNUNG"]


Da ging einmal ein Mann ins Büro und traf unterwegs einen anderen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand. Das ist eigentlich alles.

Nichts steckt in dieser kleinen Geschichte, was nicht erfassbar wäre; alles ist gesagt, mehr braucht man nicht zu wissen, der Erzähler sagt es ja selbst. Das ist eigentlich alles. Aber: Wozu das Ganze, wenn es kaum etwas zu sagen gibt; was ist das Mitteilungswürdige an dieser Begegnung, außer, dass zwei sich treffen? Der künstlerisch Ambitionierte sagt sich (hinausgeworfen in die Welt der Literatur, ein Angelhaken für den Ideenfischfang, aber der Teich ist nur ein Schwimmbecken voll destilliertem Wasser): Das kann ich doch auch! (Trotz und versagender Stolz.) Warum aber mach ich's nicht? Warum schreibt Charms sowas Lebloses, klebt den Sticker Kunst, Literatur dran? (Dada als Erklärung unbefriedigend, Stirn nickt ins Abseits.)

Der Text ist ein treffliches Beispiel für die Enthauptung der Kunstautonomie. Klar steht die Begegnung ganz eigenständig und rundum ohne Nebensätze begreifbar, jedoch ist die Eigenverständlichkeit zurückgeführt auf ein Minimum, in dem mehr Fragen als Lösungen bleiben. Die Autonomie ist ins Absurde kastriert. Denn es fehlt alles und nichts: Die Begegnung ist beschrieben, zwei Figuren mit ihren offensichtlich wichtigsten Eigenschaften sind eingeführt, sie treffen sich. Wo liegt das Problem: Es gibt keins. Problematik der Problemfreiheit. (Wenn nichts mehr reibt, ist die rasende Fahrt ein ewiger Zu- also Stillstand.) Das Problem liegt nicht im Text, die Idee steht unter den Zeilen; wie der Eisberg zwei Seiten hat in ungerecht verteilten Anteilen. (Der Ambitionierte sieht überm Wasser die Spitze und verzweifelt am unsichtbaren Koloss, geht daran zugrunde, Titanic-Effekt.) So bestimmt die entwickelnde Idee das Werk zum Kunstwerk. Im Normalfall ist es so, dass aus der am Kunstwerk assoziierten Idee (vorwärts) auf eine (mögliche) entwickelnde Idee geschlossen werden kann, dann ist das Werk verstanden. Nicht bei Charms, er lässt kein Vorwärts zu. Also rückwärts. Der Gedanke, der zum Ergebnis führt, das Produkt determiniert, ist das Wesentliche am Werk (Eisberg), und der Spitze zum Schwimmen verhilft. Charms lässt alles weg, was im Normalfall eine Erzählung zur Erzählung macht - doch er gibt ein Blendwerk, ein Gerippe, das scheinbar mit allem Notwendigen angefüllt ist. Von der Spitze aus den Unterbau erfahren, um den ganzen Körper zu begreifen. Hegel: Das Ziel ohne den hinführenden Weg ist wertlos, das Produkt allein gibt keinen Aufschluss über die gesamte Arbeit. Charms führt diesen Gedanken in Konsequenz aus, da er das künstlerische Produkt durch das (scheinbare) Fehlen einer Idee ad absurdum führt. Kunstautonomie ist illusorische Lüge, Ungewißheit. Kein Vorwärts, nichts anderes bedeutet die Autonomieforderung, ohne Rückwärts, das steckt aber nicht mit drin. Kein Positiv ohne Negativität, Hegel. Und der Beweggrund für die Kunst? Irgendetwas erwarten wir von ihr, ein uns begreifbares Interesse, eine Zustandsbeschreibung des Lebens der Welt, ein sinnlich-sittliches Erlebnis, eine Deutung, Wahrnehmung, Kartographie des Lebens. Kunst ist ... darf ... muss ... prodesse et delectare, höchste Bedeutung im Menschen: Kunst. Ein Loch in diesem Wort, ein Schleier darüber, Definitionen wie Fallgruben.

Genaugenommen sind wir überall von Kunst umgeben: "Dass das Dasein und die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist", nach Nietzsches Sicht. In der Betrachtung verändern sich die Dinge, aus dem Gegenstand, geprüft auf seine Brauchbarkeit, wird Formung, Methode, Zweck und Absicht. Aus dem Stein wird das Faustkeil: Die Fähigkeit, Naturgegebenes anhand des Bewusstseins zu formen, das Natürliche (Natur ohne Mensch) beeinflussen, verändern zu können. Hier entspringt schon aller Grund des Künstlerischen: Die Fähigkeit zur Abstaktion, die Dinge ihrer Natur zu entheben, ihre Funktion in der Form zu fokussieren. Die Gestaltung der Funktion. So ist die Gehwegplatte Kunst, indem sie rein als Funktion gestaltet ist; am Ende des Weges steht das Haus, das als Herberge seine Funktion besitzt, aber in der Darstellung der Handwerksfertigkeit über diese Funktionalität hinausweist; und das Haus wird überragt vom Dom, er abstrahiert die reine Darstellung durch die in ihr enthaltende Idee - das Bewusstsein wirkt durch Darstellung der Idee auf sich selbst: die Kunst wird zur moralischen (religiösen) Anstalt. (Drei Aspekte der Kunst: 1. - die gestaltete Funktion; 2. - die erste Stufe der Darstellung; 3. - die zweite Stufe der Darstellung: die Abbildung der Idee, die Reflexion des Geschaffenen [durch den Geist hindurch] zum Erkennen im und am Geist [Geist ist Körper]: der sittliche Geist.)1 Der Aspekt der moralischen, geistigen, sinnlichen Anstalt, der dritte Aspekt also ist das, was mit dem Begriff Kunst gemeint ist, ihre Deutungsfähigkeit. Und wenn der Anspruch fehlt (prodesse et delectare), so bricht das ganze System Kunst zusammen wie ein Kartenhaus, Titanic sinkt - dabei ist vom Eisberg lediglich die Spitze geraubt. Der Stachel mit dem süßen Wein der Wespe Idee für den Geist und die Seele ist verlorengegangen wie ein ungezogener Sohn, kein Gleichnis.

"Saying that culture objects have value is like saying that telephones have conversation." (Brian Eno). Das Kunstwerk wird durch keine Kunstdefinition geläufiger; es ist, als erklärte jemand die Drei anhand der Drei oder die Welt anhand der Welt: Kunst ist Zweck der Kunst. (X ist Zweck von X.) Klar ist sie das, doch wesentlich ist die Entwicklung, die zum Werk führt, ohne die es nicht existent wäre: Kein Haus existiert durch sich selber und ohne Bauzeit, aber: jedes Haus ist eigenständig, wenn es steht. (Hegelsche Dialektik?)2 Kein Eisberg ohne Wasser, Temperatur als schaffender Geist. Wer würde das nicht ein- und dem Berg ansehen? Er hat sich über Prozess und Materie erhoben und steht autonom. Die Erhebung des Geistes. Wie oft getan, wie oft verworfen, beantwortet. Die menschliche Tat ist grundsätzliches Schaffen und bezüglich zur Außenwelt: Die Bezugnahme der Abgrenzung. (Politik ist Kunst.) Die Entwicklung und ich: Selbstreferenz? Künstlerischer Rückschritt? Beides nicht. Selbstreferentiell ist der Plattenbau, das Reproduzierbare, die Ware. (Kunstautonomie?) Rückschritt ist es auch nicht - es ist nur einfach kein Fortschritt. Oder nicht das, was von ihm erwartet wird. Autonomie ist Täuschung, wie Freiheit Missverständnis ist. Autonomie, Eigenleben mit Bindung an eine über-Ordnung: Verständnis an sich selbst ist also Grunderfahrung des Geistes oder frommer Wunsch (Perpetuum mobile). Freiheit ist Wegwurf. Nichts macht uns unsicherer und verklärter als das Wort Kunst. Jeder trägt seine Deutung mit sich, trifft man auf den Eisberg, spritzt sie heraus, trübt das Meer, wir Tintenfische. Bei Charms fehlt die aufreißende Spitze, Schweigen und dessen fragender Nachhall beherrscht die nasse Fläche. Der fehlende Stachel an der Wespe Idee - ist es Mut zum Stillstand, ist es Mut zur überholspur, ist Mut überhaupt ein Weg (der ein Ziel sein kann)? Die Frage nach dem Wert: Besitzt Kopfsteinpflaster (Mosaik) oder Asphalt (Route 66 to the Airport) mehr Wert, wer legt Werte fest? Das Leben ist ein steter Alterungsprozess, der Schaffensprozess ist eine stete Verjüngung. Kunst ist Ausstieg - das haben vor allem die Selbstmordkünstler begriffen. Kunst ist Unterwerfung - das Erschaffen definiert uns, nicht umgedreht. (Kunst ist Sentenzbrei; wertlos, Notdurft.)

Charms enthält sich, seine Clevernis ist absichtliche Missachtung der Regel. Aspekt Drei = Null, sagt Charms und köpft. Nur noch Rumpf. Das Segel liegt ohne Schiff, ohne Idee, im Trockendock: ein toter Ort, ein Grab. Im Toten liegt alle Ahnung des Lebens - Hegels Negativität. Den Dom negativiert, wird er zur Gehwegplatte und diese dafür zum Dom, das Haus bleibt unbewegt (das steht so schön korrekt und steif). Die Notwendigkeit liegt im Verzicht auf (politische) Korrektheit, die wichtigen Erschaffer sind nicht positionierbar. Das assoziative Verhalten des Menschen ist (zum Glück) nicht korrigierbar, leider aber suggestiv lenkbar. Doch Suggestion fällt in den dritten Aspekt, den hatte Charms schon hinter sich gebracht; die Guilloutine des Verstandes tötet die Hypnotiseure, die Henker.

Assoziation vom Kunstwerk/Kunstprodukt zurück ins Feld der Idee, unter die spiegelharte Oberfläche des Eismeeres, um dann von dort den Weg zum Produkt nachvollziehen zu können - das ist die Idee, die in Charms' Begegnung steckt. Die Zerstörung des Kunstbegriffes, sowohl die Autonomieforderung als auch den (hegelschen) sittlichen Geist. Charms ist kompromisslose Auflösung der Kunstvorstellung, Zusammenfall des Vorhangs und Abbruch der Aufführung. Kunst ist keine Kunst. Das ist Dada, das ist Charms, das ist nicht korrekt. (Charms ist tot, wird jemand sagen, und um auf die Negierung der Kunst hinzuweisen, hätte es zudem dieses langen Textes nicht bedurft.) Aber Zerstörung der Blüte nützt nur, wenn dadurch die Blume neue Triebe entwickeln kann: vom Rückwärts zum Vorwärts, aus dem Dialog mit dem Tod das Leben gewinnen. Das sagt Hegel, das sagt Charms vielleicht noch nicht, aber Celan und schließlich Heiner Müller. Das Glück des Widerstandes, die unbedingte Dialektik. Paul Celan hat Adornos Stillstandsthese vom Ende des Gedichtes nach Auschwitz gründlich widerlegt, und nicht nur er. Doch bleibt noch immer die Frage, welcher Weg zu einer funktionierenden (wahren) Einsicht führt. Auch wenn Celan mit Gedichten ins Leben zurückführt und aus Auschwitz heraus, kann man zu einer (oder mehreren) paradiesischen Einsicht(en) - einer Stillstandszieleinsicht - gelangen? Ganz sicher nicht; das Leben, das Denken geht weiter (Descartes = Hegel). Assoziativ, rückwärts vorwärts: Phänomenologie des Geistes. Fünfzig Jahre konsequenten Brustschwimmens von Auschwitz nach vorn haben die Zeit nicht voran gebracht, es ist alles wieder, noch immer da, nichts ist verloren. Die Zeit rotiert mit uns dialektisch, wir fallen immer wieder auf uns zurück, keine Fluchtmöglichkeit. Eine seltene Art Glück. Wir begegnen uns immer wieder mit Charms' Brot unterm Arm, auf dem Rückweg, wo es nach der Zerstörung neu beginnt. Autonomie? Nur die allzeitige Gegenwart kann diese gewähren, das hieße: Der Tod ist gegenüber dem Leben autonom, und umgedreht. Dann spielt Assoziation keine Rolle mehr, ob vorwärts oder rückwärts ist egal, es ist eine Richtung.

Zerstörung, Abhängung des Vorhangs, Guilloutinierung der Kunsteisberge, Versenkung der Titanic, um die Meere neu definieren zu können. Charms köpft, Celan baut auf. Hitler hat geköpft und aufgebaut, Stalin hat ihn geköpft, wurde selbst von Gorbatschow gehenkert. Es geht darum, den Platz der Städte zu räumen. Die Phänomenologie ist eine der seltenen historischen Wahrheiten, weshalb Müller dann sogar von der Notwendigkeit des Krieges reden kann: Zerstörung der Maschine. Eine Unkorrektheit. "Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust". Das ist eigentlich alles. 3




[...zurück...]



1  Verfolgen wir den Blick der Triade: Von der Gehwegplatte unten, hinauf zum (Wohn-)Haus, darüber thront der Dom. Die letzte Instanz ist die Religion, die Gottheit, zu dem das abendländische Streben gerichtet ist. Hinauf, die Läuterung: In jeder christlichen Stadt findet sich an höchstgelegener oder zentraler Stelle die überragende Kirche. Die Botschaft (3. Aspekt): das Leben weist über das Leben hinaus (Tod ist nicht endgültig etc. - der Mensch ist Kunstobjekt seines Glaubens). Man ersetzt den Dom heute durch das Kaufhaus: der 3. Aspekt ist finanzieller Natur; das Leben wird im Leerlauf des Geldes bestimmt, verweist auf das vorhandene Leben, denn Geld ist nur im Jetzt gültig. (Der Mensch ist Kunstobjekt seines Glaubens.) Aber noch eine weitere Möglichkeit gibt es: Packen wir auf den Stadtplatz die Regierung (Parlament - Thron). Der Mensch ist allezeit politisch positioniert, die politische Funktion ersetzt den Menschen im Leben und im Tod. (Der Mensch ist Kunstobjekt seines Glaubens.) So haben wir die Trilogie beisammen: Staat, Religion, Wirtschaft - und alles zu dritt ist Eines, thront über der Stadt: Die Moderne. Ein Koloß ohne Gegenwehr (Absorption von Hell und Dunkel). Dann stößt der Mensch an die Grenzen seines Glaubens: Die Maschine hat sich verselbständigt - gibt es eine Ausweg aus der Maschine? Und wieder leuchtet die Kunst marsrot auf, in saturnischen Ketten, jupitermondisch beäugt - die Ejecttaste unter Glasscheibe und Überwachungskamera. Die Entschärfung der Klinge durch Reproduktion. (Bei der Atombombe hat das nicht funktioniert.)

nach oben

2  Ist Hegels Dialektik lediglich Verschweigen von Anfang und Ende und damit ewig beweglich wiederholbar? Hegel als der Gefangene seiner selbst; der Anstifter zum bewegten Stillstand. Technische Reproduzierbarkeit.

nach oben

3  Jemand fragt nach der Logik, solche Gedanken aus einem Minimaltext des literarischen Humoristen Daniil Charms zu konstruieren: »Ist das nicht analytische Krankheit?« Ich gebe alles zu, konnte mich aber dennoch nicht enthalten. Letztlich ist das augenscheinliche Fehlen einer künstlerischen Idee bei Charms (Warum schreibt er solchen Text?) eine Art von Genialität: Genau diese Frage ist der Stachel, den man eigentlich vom Text erwartet, der aber nicht existiert, und daher konstruiert man ihn selbst. Künstlerische Selbst-Befriedigung.

nach oben


© sascha preiß 1999