[GOTT IST AUCH EIN NICHTSCHWIMMER]


[FELICITAS HOPPE ERZÄHLT IN Verbrecher und Versager
VON UNTERGEGANGENEN HELDEN]


Da muss man schon mehr als einmal hinsehen, um einen Georg Meister in den Menschenbergen des 30jährigen Krieges zu erblicken; oder auch einen Franz Kapf im Licht oder Schatten Schillers, oder Franz Wilhelm Junghuhn, oder John Hagenbeck oder schließlich einen Leonhard Hagebucher – diesen gar in Abidjan und sowieso nur zwischen Buchdeckeln. Von solchen seltsamen und unbekannten Kerlen erzählt Felicitas Hoppe in ihrem Buch VERBRECHER UND VERSAGER. Allen ist gemein, dass sie vor den Zurichtungen ihrer Zeiten auf die Meere flüchteten, "immer weiter nach Süden, wo wir bis heute das Glück vermuten".

Da ist zum Beispiel der anfangs im Scherenschnitt gezeigte Franz Joseph Ernestus Antonius Erementius Maria Kapf, Freund und Zimmergenosse des jungen Schiller, zu Zeiten, als beiden auf der Hohen Karlsschule Würtembergs das Militär eingedrillt wird. Und während der eine über den Räubern sitzt und "die Welt mit Schreibpapier ausmisst", schwärmt der andere beim Wein und Hombre-Spiel von Heldentaten in der wirklichen Welt. Und trinkt sich solange "in weiter entfernte bessere Welten", bis er sich tatsächlich als Soldat des Herzogs einkaufen lässt, den Fußmarsch nach Holland auf sich nimmt, im Dauerregen wartet, endlich ein Schiff nach Afrika besteigt und, nach ewiger Fahrt angekommen, dort in sengender Hitze, mit verrostetem Degen und ohne Stiefel, ganz einfach zu grunde geht oder an sich selbst Hand legt, "wie das zuhause so üblich ist".

Diese eine und vier weitere Gestalten stellt Felicitas Hoppe vor: Verbrecher sollen es sein, weil sie zumeist ungewollt in den finsteren Händeln ihrer Zeiten sich wiederfinden; Versager sind sie aus eigener Kraft, weil sie in diesen Zeiten einfach nicht leben können, sei es im Barock des Georg Meister oder im Dunstkreis des ersten Weltkriegs von John Hagenbeck. Es herrscht beständig Krieg, in dem die einfachen Gestalten von hohen Herren verheizt werden: Französische Revolution, Napoleon, Buren- und Weltkrieg – der "immer währende dreißigjährige Krieg", wie es in Meisters Geschichte heißt, fordert seine Opfer, und das sogar in der Fremde. Die fünf traurigen Helden Hoppes, historische Figuren außer Hagebucher, stehen allesamt im Schatten ihrer Zeiten und Zeitgenossen. Kapf hat sich an Schiller zu messen, Junghuhn an Humboldt, John Hagenbeck an seinem berühmten Magierbruder Carl – und Georg Meister, der "Urahn" fliehender Versager, mit Gott selbst. Denn Meister ist ein Gärtner aus Sonderhausen und wird Gärtner auf einem Schiff gen Japan, segelt so an Orte, "wo überall Gott seinen Garten hat". Gott ist die entscheidende Figur, an der sich alle zu messen haben.

Die Rhetorik des Glaubens ist Hoppes Sprache. Ihre Figuren weisen immer wieder auf einen Gott, der doch nicht erlösen kann, weder zuhause noch auf den Meeren. Weil er, wie Kapf im dunklen Schiffsbauch sitzend feststellt, "auch nur ein Nichtschwimmer ist". Man entkommt eben nicht so einfach den Schatten seiner Welt. Obwohl: Gefragt, wo Kapf bei Schillers Räuber-Vortrag im Bopserwald sitzt, Schatten oder Licht, steht wie ein spätes Echo aus dem Paradies unmissverständlich am allerletzten Schluss des Buches: "Er sitzt im Licht". Sie alle halten sich nämlich an ihren Hoffnungen aufrecht und beugen sich nicht: "Ich habe mehr Glück, als ich verdiene" schreibt einer der Ausreißer noch aus dem tiefsten afrikanischen Sumpf.

Porträts sollen es sein, steht im Untertitel des Buches. Tatsächlich sind es Fiktionen, Erzählungen, die einen historischen Gegenstand zum Anlass haben, aber nicht zum Thema. Denn "Charaktere existieren nicht" bzw "Wir sprechen hier nicht von Onkel John!" Hoppes Erzähler erfinden ihre Figuren nicht nach biografischer Exaktheit, sondern sprechen über ihre eigenen Fiktionen, die sie den jeweiligen biografischen Bruchstücken angedeihen lassen. Und sie sagen ganz unmissverständlich "Ich". So entstehen diese Erzählungen auch hauptsächlich in der Literatur, Kapf bekommt mit Spiegelberg, Kosinsky und anderen Schillers Räuberbande als reale Freunde an die Seite gestellt, und sogar noch bei John Hagenbeck fällt Schillers Handschuh in die Geschichte: "Der Löwe kniet hin und legt sich nieder, dann erhebt er sich und reißt das Maul auf, woher der Befehl kommt, bleibt mein Geheimnis". Und nicht ohne Grund ist das letzte "Porträt" einem Romanhelden von Wilhem Raabes Abu Telfan gewidmet. Diesen Roman entdeckte Hoppe in der Bibliothek des Goethe-Institutes von Abidjan/Elfenbeinküste, wie der der Erzählung vorangestellte Abdruck des Titelblatts dokumentiert. Querverweise, Leitmotive, raffiniert ineinander verschränkte Lebensläufe und Hoppes rhythmische Sprache: Dass ein so kleines Buch eine solche ungeheure Literatur verträgt, ist geradezu sensationell. Die Autorin, selber lange Zeit auf See gewesen und immer wieder in ihren Romanen auf dem Meer sich befindend, erreicht in Verbrecher und Versager eine Kunst der Sprache und des Erzählens, die die ganze Sehnsucht und Hoffnung enthält, denen ihre Helden nachjagen und dabei verderben. Ein seltenes Ereignis der deutschen Literatur. Und so sehr die traurigen Gestalten auch versagen:

Sie sitzen im Licht dieser Literatur.


Felicitas Hoppe: Verbrecher und Versager





Felicitas Hoppe: Verbrecher und Versager. Fünf Porträts.
Mare Bibliothek 2004, 150 Seiten.


Diese Rezension ist in veränderter Fassung in der Deutschen Allgemeinen Zeitung Almaty erschienen.



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© sascha preiß 2006, 2007