[BLINDE VERSPIEGELUNG]


[ROBERT MENASSES ROMAN Die Vertreibung aus der Hölle]


Der Vorredner sind viele.

Auch der Erzählungen über jüdisches Leben in Europa quer durch die Jahrhunderte sind viele. Menasse versucht, in seinem Roman Die Vertreibung aus der Hülle zwei dieser Erzählungen miteinander in Verbindung treten zu lassen: Zum einen die Geschichte des Rabbi Samuel Manasseh, dem späteren Lehrer von Spinoza, und die des Wiener Historikers Viktor Abravanel, einer fiktiven Figur, die mit mancherlei biographischen Zügen Robert Menasses selbst ausgestattet ist.

Zwei Szenen, Jahrhunderte voneinander entfernt, nebeneinander stehend, bilden den Auftakt des Romans: Zwei Skandale bilden den Anlass des Erzählens. Der erste, in Portugal vor über dreihundert Jahren, ist eine katholische Prozession für eine gekreuzigte Katze, der zweite, am Ende des 20. Jahrhunderts, ist Beginn und zugleich Ende eines Klassentreffens. Viktor, gefragt, was er nach der Schule geworden ist, beantwortet diese Frage mit der Gegenfrage, wer seine Lehrer gewesen sind und konfrontiert die Anwesenden mit ihren NSDAP-Mitgliedsnummern. Das Fest platzt und die Geschichte kann beginnen.

Menasses Thema, wie schon in seiner Trilogie der Entgeisterung (neben der Philosophie Hegels), ist auch in diesem Roman die Geschichte und der Umgang mit ihr. Die Frage, die Viktor stellte, ist zugleich die Ausgangsfrage des Roman: Wer waren die Lehrer und wer die Schüler bzw. was ist aus diesen jeweils geworden, da die einen ohne die anderen nicht auskommen.

Menasse erzählt zwei Geschichten parallel wie einst Plutarch, die Biographien verschiedener Jahrhunderte nebeneinanderstellend, die sich so eng aneinander gefügt nicht mehr grundsätzlich unterscheiden. Die Erfahrung der Vertreibung bzw. des Progroms und Völkermordes an den Juden Europas sind in beiden Zeiten und Figuren eingeschrieben: Der junge Samuel Manasseh erfährt den "Segen der Inquisition" in seiner kleinen portugiesischen Stadt Vila dos Começos am eigenen Leib, seine Familie muss fliehen, um nicht als Ketzer verbrannt zu werden. Viktor Abravanels Familiengeschichte ist nicht zuletzt durch die Nationalsozialisten gezeichnet, wie er in Rom erfährt. "Die Geschichte war die Hälle. Ich sah Spitzelakten und Folterprotokolle. [žžž] Es gibt keine Pointe. Sonst wäre die Geschichte doch schon zu Ende. Nein, nichts. Hölle - und die Vertreibung aus der Hölle." Die Vertreibung aus der Hölle, die ehemals Heimat war (wie der Rückumschlag des Buches noch einmal verdeutlicht), sie führt nicht ins Paradies, sondern in die Welt, in der man leben kann. Samuel Manasseh fährt sie nach Amsterdam, wo er auf den jungen Spinoza trifft, Viktor über England nach Österreich zurück. Die Engführung der weit auseinanderliegenden Biographien sollen so vor allem berichten vom Umgang mit dieser Geschichte, mit der grundlegenden Erfahrung europäischer Geschichte, was von ihr in der Welt bleibt.

Soviel zum enormen Thema, das sich Menasse gestellt hat. Aber so groß und durchdacht dies in seiner Konzeption ist, die literarische Ausführung bleibt hinter dem philosophischen Gehalt zurück.

Nicht allein dadurch, dass schon viel vom großen Stoff in der Skandal-Klassentreffen-Szene Viktors verschenkt wird. Wieviel Brisanz eine skandalöse Offenbarung besitzt und was sie in einer zum Fest geladenen Gesellschaft auslöst, hatte 1997 Thomas Vinterberg in seinem Film Das Fest gezeigt. Menasse verschenkt dieses Potential zugunsten eines plötzlich sehr dünnen Witzes: Von 30 Gästen blieben innerhalb von Sekunden nur 2 übrig, und "in diesem Moment kamen dreißig Suppen". Aus der skandalösen Szene wird ein alberner Witz, der zugunsten des Komischen seine Thematik aufgibt. (Auch wenn der Roman diese Szene schließlich als Bluff auflösen kann. Aber warum gehen dann alle, wenn sowieso kein Skandal existierte?)

Die Geschichte des Samuel Manasseh hingegen ist gar nicht aufs Komische angelegt, sondern wirkt geradezu bieder, dargebracht von einem permanent alles erklärenden Erzähler, dem Sinnhaftigkeit mehr bedeutet als die Geschichte selbst. Dem sich Figurenrede und Erzählung vermischen zu einem grundlegend Etwas bedeutenden Text. "Das Kind hat viele Namen" heißt es überdeutlich drei mal, als wäre niemand darauf gekommen. Sieben Motti hat Robert Menasse seinem Roman vorangestellt, die die Thematik des Textes sinnhaft beleuchten sollen. Damit bereits ist neben intellektuellen Hinweisen auch einer auf das Problem des Textes gegeben: eben der vorgefertigten Sinnhaftigkeit, die senteziös im Roman verbreitet wird.

Bedeutsam aufgeheizt wird der Text zudem durch die immer und überall wie Lehrsätze eingestreuten Paradoxien. "Bevor er Rabbi wurde, war er Antisemit." heißt die einsätzige Lebensgeschichte Manassehs. Oder: "Samuel, sagte der Vater, der Junge soll Samuel heißen. Der Seher. Er schloss die Fensterläden. Mané war angekommen, und der Vater wusste, sie mussten fort." Mit derartigen Kunststücken schafft es Menasse, sein Thema "niederzuschreiben", dem philosophischen Grund literarisch entgegenzuwirken. Obwohl doch vor allem im hinteren Romanteil wesentlich stärkere erzählerische Passagen verborgen sind, bis zu denen man sich aber erstmal durchkämpfen muss.

Paradox auch das Erzählverfahren, das ein spannendes und cleveres sein könnte, wenn es nicht immer über das Prinzip der Spiegelung der einzelnen Szenen zueinander funktionieren und sich damit totlaufen würde. Menasse erzählt seinen Roman wie eine Cosinuskurve: Beginnend mit dem historischen Teil, schwingt er sich über die Zeitachse ins 20. Jahrhundert und möchte diesen Strang nachfolgend wieder in der fernen Geschichte weitererzählen, so die Konstruktion. Tatsächlich finden sich die Erzählstränge aber nur nacheinander; die Situationen sind aufeinander verwiesen, ohne dass sie allerdings wirklich miteinander in Beziehung treten. Die Figuren Manasseh und Viktor sind ins jeweils Andere kopiert, bleiben aber jeder für sich auf seiner Seite liegen: "ein fast schiefes Lächeln, ein Mund mit sehr vollen, runden Lippen, die aber seitlich einen Haken bildeten, // der Mund von Hildegund, ein Kussmund, der aber auf einer Seite ein wenig wegrutschte, überheblich, unsicher, // rot, so rot der Sonnenuntergang". Zwei Hauptfiguren könnten sich ansehen über einen Jahrhunderte breiten Spiegel, doch Menasses Spiegel bleibt merkwürdig blind. Die Erzählstränge rutschen am Glas ab und bleiben sich fern, die Notwendigkeit des einen im anderen, die Menasse evozieren möchte, stellt sich leider nicht her.

Öber den Umgang mit Geschichte will Die Vertreibung aus der Hölle erzählen, wenn Viktor sich mit Spinozas Lehrer Samuel Manasseh beschäftigt, was den Hintergrund des historischen Teils darstellt, aber es gelingt nur im modernen Romanteil: Die Skandalszene des Klassentreffens etwa berichtet von diesem Umgang, der ein Benutzen der Geschichte ist, ebenso der Schauprozess nach stalinistischem Vorbild an der Universität. Beides beschreibt den Umgang mit Geschichte wesentlich eindrücklicher, als es der historische Teil und die Beziehung der beiden Teile zueinander je vermögen. Denn Geschichte wird hier nicht einfach nur geschildert, sondern besprochen von Figuren: Geschichte ist von diskursiver Gültigkeit. Es ist auffällig, dass gerade dieses Reden von und über Geschichte als Bestandteil der Geschichte im historischen Teil komplett ausgeblendet, statt dessen bestimmt wird von einem endlos aufdringlichen Erzähler. Die Schwäche des historischen Teils liegt vermutlich im Fehlen von Nebenfiguren, die ein Erzählen der Ereignisse aus deren Sicht möglich machten; der Focus ist zu eindeutig auf Manasseh gerichtet, vor allem während seiner Kindheit, als dass sie plastisch würde. Und gerade im historischen Erzählen liegen alle Mäglichkeiten, den Umgang mit Geschichte zu zeigen, Romane wie Stephan Heyms König-David-Bericht oder José Saramagos Die Geschichte der Belagerung von Lissabon sind nur zwei Beispiele, wie Geschichte "gemacht" ist und wird.

Insgesamt hat Menasse mit Die Vertreibung aus der Hölle einen durchschnittlichen Roman geschrieben, der seine Thematik literarisch nicht einlösen kann, was mehr als schade ist, da Menasse große Themen erzählen kann. Das hatte er nicht nur in seiner Trilogie der Entgeisterung bewiesen.


Robert Menasse: Die Vertreibung aus der Hölle




Robert Menasse: Die Vertreibung aus der Hölle. Roman.
Suhrkamp 2002, 450 Seiten.



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© sascha preiß 2002