[EINE FORM VON WIEDERBELEBUNG]


[STEFFEN MENSCHING ERZÄHLT IN SEINEM ROMAN Jacobs Leiter
VON NEW YORK, EINEM WAHNSINNIGEN BUCHKAUF UND JÜDISCHEN EMIGRANTENSCHICKSALEN]


Das Ende ist offen. Heiner will wissen, wie die Geschichte weitergeht. Zumindest diese Geschichte hört hier auf. The story is the sense of the history. Hatte es heißen sollen, was vielleicht schön gewesen wäre, aber so heißt es nicht. Die Geschichte ist nicht am Ende angekommen. Nur das Buch. Eines über 150 Jahre deutsche Geschichte, über jüdische Emigranten, über die Mutter, über New York, über Bücher, über die Suche nach den Geschichten in der Geschichte in den Büchern von New York.

Heutzutage von New York zu erzählen, bedeutet doch, schnelle Geschichten über irgendwas Hippes zu schreiben, über das Tempo der Stadt, über Ground Zero. Wurde Steffen Mensching zu seinem Roman Jacobs Leiter gefragt. Der antwortete knapp: "Ich bin bekennender Anachronist." Beruhigend zu wissen. So fehlen: hippe Lifestylekracher, urbane Rasereien, Spurensuchen im Staub des 11. September 2001. Statt dessen: New York 1998. Das Kommunistische Manifest hat 150. Geburtstag. Die Basketballer der NBA erstreiken höhere Gehälter. Monica Lewinsky beantwortet Fragen zur Definition von Sex. Ein Mann gräbt sich durch Bibliotheken, verpackt in engen, stinkenden Räumen Bücher, hört seinen Freunden zu. Köstlicher Anachronismus. Es ist eine Spurensuche ganz anderer, eigener Art. Eigentlich war der 1958 in Berlin geborene Autor Steffen Mensching nach New York gekommen, um hier einen dreimonatigen Stipendiatsaufenthalt zu verbringen. In einem Antiquariat aber fand er eine umfangreiche Bibliothek jüdischer Emigranten aus Deutschland. Jacob, der Antiquar, irgendwann einmal von Israel nach New York gekommen, machte einen Scherz: "Kauf sie alle, 4000 Stück, mach mich glücklich, wenn du mich auch nicht reich machen wirst." Mensching kaufte und fand in den Büchern Spuren der ehemaligen Eigentümer, denen er nachging.

Der Roman Jacobs Leiter ist diese Suche, zugleich ihr Ergebnis. Geschichten werden entfaltet, deren Ausgangspunkt der ungeheure Buchkauf ist. Um diesen herum gruppieren sich die Erzählungen von Max Martin Nathan, einem Hamburger Juden, der 1939 über England nach New York emigrierte. Von Abraham Jacobi, einem Juden aus dem westfählischen Hartum, Zeitgenosse von Marx und Engels, der in den Kommunistenprozessen nach der 1848er-Revolution verurteilt wird, nach New York emigriert und dort den Communisten-Club mitbegründet. Von Hilde, die von den Nazis verhaftet wird und später die berühmte Schindlersche Liste mitverfasst. Von der Mutter des Erzählers, die im Görlitz der frühen DDR keine Lebensgrundlage findet. Von Lily, die als Kind in Wien in Freuds Wohnzimmer sehen konnte. Von Herbert, der Karl Kraus das Kellerfenster mit einem Ball zu Bruch schoss. Von der eigenen Kindheit, im Ostberlin der 60er Jahre. Und in poetischen Schnappschüssen von New York selbst, das anachronistische von 1998, je zehn Zeilen lang, lyrische Intermezzi.

Die Geschichten sichtbar zu machen, sie wiederzubeleben, davon handelt der Roman. Sitzungen in Bibliotheken, Anfragen per mail nach Tel Aviv, Telefonate mit Verwandten Max Martins, die lieber nicht genannt werden wollen, Gespräche mit den Freunden in New York: Die Suche, der Weg, der ins Nichts führen kann, steht im Zentrum. Splitter der eigenen Vergangenheit werden assoziativ mit hervor gegraben; sie verketten das Eigene mit dem Fremden, lassen aus Einzelheiten allmählich ein Bild entstehen. Etwa, wenn ein Postkartenfoto vom zerstörten Berliner Gendarmenmarkt auftaucht: "Wagemutige Kinder könnten auf die Idee kommen, in den Trümmerdom einzusteigen." Der wagemutige Einstieg findet seinen Platz, direkt neben Jacobis und Nathans Spuren, schreibt so die Geschichte ins Heute weiter. Die Bücher in Jacobs Antiquariat geben Stichworte, der Erzähler sucht die fehlenden Sätze dazwischen. Das Ausgraben der Geschichte aus den Büchern, bibliophile Archäologie. Aber ein Anachronist ist zuerst auch ein Chronist. In tagebuchartigen Minimalkapiteln klettert die Geschichte voran, hinauf, sind die ineinander gefugten Passagen der stetig wachsende Speicher, das Archiv, in dem nach und nach das verschwundene Leben zu sehen ist. Dass sich ein Bild erzeugt, eine Form der Wiederbelebung. Das Symbol des Archivs, die Leiter, auf der der Erzähler in Jacobs Antiquariat die Bücher sichtet, ist nicht zuletzt ein alttestamentarisches Symbol für die Vertreibung, die Leiter, wie sie Jakob im Traum erschien, auf der Flucht vor seinem Bruder, der ihn ermorden will. Ist ebenso ein Roman, aus dem 19. Jahrhundert, ein vergessener Text von Ludwig Finck. Jakobs Leiter, also called jackladder, pilotladder, ist auch ein nautischer Begriff, ein Suchinstrument, das Werkzeug des Detektivs. Mit diesen Deutungsmöglichkeiten spielt der Roman, tippt sie an, springt hin und her, von Sprosse zu Sprosse.

Mensching erzählt auf mehreren Ebenen, zeitlich und stilistisch. Die erzählerische Spannung und hohe Qualität von Jacobs Leiter sind die schnellen Schnitte, Einträge aus unterschiedlichen Zeiten und Erzählhaltungen, in knapper, konzentrierter, pointierter Sprache. Fiktion, Autobiographie, Dokumentation stehen nebeneinander, überschneiden, überblenden sich, sind untrennbar ineinander gefügt. Historisches Erzählen, durchbrochen vom detektivischen Blick. Geschichtsforschung betrifft außer den Gegenstand auch das Interesse des Suchenden. "Schreibe ich Nathans Geschichte um seinetwillen, um meinetwillen, um Gottes Willen?" In Jacobs Antiquariat werden die Bücher verpackt, für die Rückkehr nach Deutschland, befindet sich der Erzähler in New York, auf den Straßen Amerikas, Schelmenstücke der besonderen Art. Mensching lebt sein ganzes komisches Talent in diesen Szenen aus. "Born in the U.S.A., im Radio. Mein kritischer Apparat bricht zusammen, alle marxistischen Regulative gehen über Bord. Exit 40. Refrainsüchtig brülle ich die heimliche Hymne des Landes, ein einsamer Steppenwolf, Hipnik, Flower-Power-Bauer, Pionier, weißer Siedler..." Die Komposition des Romans, Menschings beeindruckende Sprache, die fehlende Anbiederung an zeitgemäße Sujets: Jüdischem Leben in Europa,Vertreibung, Vernichtung, in zeitlicher Verschränkung zum Heute, hatten zuletzt Robert Menasse mit Die Vertreibung aus der Hölle und W. G. Sebald in Austerlitz nachgespürt. Mensching hat mit Jacobs Leiter einen weiteren Roman hinzugefügt.

"Muss man 4000 Bücher kaufen, um eines schreiben zukönnen?" Keine Antwort, offene Frage. Eine Suche mit offenem Ende.

Herbert will wissen, wie die Geschichte weitergeht.


Steffen Mensching: Jacobs Leiter






Steffen Mensching: Jacobs Leiter. Roman.
Aufbau Verlag 2004, 450 Seiten.



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© sascha preiß 2005