[GEHETZTE UND GETRIEBENE]


[JULI ZEHS ROMAN Spieltrieb UND ANDREAS MAIERS Kirillow SIND SICH ÄHNLICH UND DOCH VÖLLIG VERSCHIEDEN]


Dass man doch endlich wieder die Verbindung von Literatur und Politik eingehen sollte, danach wurde seit den Jahren der deutschen Pop-Literatur immer wieder gerufen. Ein Reflex deutscher Autoren auf diese Forderung war, in der Kindheit autobiografisch herumzuwühlen und sie als politisches Statement aufzublähen (das unsinnigste Beispiel dafür stellt Zonenkinder von Jana Hensel dar). Nach dem September 2001 herrschten plötzlich Ratlosigkeit und misslungene Versuche, den Anschlägen literarisch gerecht zu werden (z.B. Bryant Park von Ulrich Peltzer). Daneben gab es aber auch Autoren, die ganz wie selbstverständlich politisch und literarisch anspruchsvolle Literatur schrieben, ohne sich an tagesaktuelle Ereignisse zu verlieren. Neben gestandenen Autoren wie etwa Christoph Hein (Willenbrock) traten plötzlich zwei Autoren auf, die außerordentliche Debüts vorlegten: Juli Zeh mit ihrem weltweit erfolgreichen Adler und Engel, in dem sie in ungewöhnlich bitterem Ton ihre Figuren mitten in den (in Deutschland bis auf Peter Handke literarisch nicht weiter beachteten) Balkankrieg der 90er Jahre treibt, und Andreas Maier mit Wäldchestag, der eine an Thomas Bernhard geschulte Realitätsauflösung sozialdemokratischen Idylls in der hessischen Provinz betrieb.

Nach einem Reisebericht durch das Nachkriegs-Bosnien von Juli Zeh (Die Stille ist ein Geräusch) und einem zweiten Roman von Andreas Maier, diesmal aus der südtiroler Provinz (Klausen), erschienen vor kurzem die neuen Romane dieser beiden Autoren, auf die man gespannt sein durfte.

Sowohl Zeh als auch Maier widmen sich darin verstärkt einer Jugend, die ihren politischen An- und Widerspruch gegen eine Welt festgefügter Meinungen und Moralvorstellungen durchzusetzen sucht und dabei nicht bloß beim Diskutieren bleibt, sondern zur Tat schreitet. Dass Juli Zeh für ihr Exempel ein Gymnasium als Schauplatz, frühreife Schüler und übersophistisierte Lehrer als Personal wählt, Andreas Maier sich hingegen an eine Gruppe Studenten und plötzlich auftauchende Russlanddeutsche im seltsam provinziell wirkenden Frankfurt am Main hält, ist für die jeweilige Tour de Force ein zu vernachlässigender Unterschied. Beide Romane lehnen sich an enorme Vorbilder, Spieltrieb an Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und Kirillow, wie der Titel bereits verrät, an Dostojewskis Dämonen. Und in beiden Romanen spielt das Internet eine nicht unbedeutende Rolle. Doch damit enden auch schon alle Ähnlichkeiten.

Spieltrieb erzählt die Geschichte der hyperintelligenten Ada am Ernst-Bloch-Gymnasium, zeitlich konkret begrenzt zwischen den Jahren 2002 und 2004. Sie und der mit diabolischen Zügen ausgestattete Alev, sich selbst als "Urenkel der Nihilisten" verstehend, treiben den Deutsch- und Sportlehrer Smutek und sich selbst in ein moralisches Dilemma: Wenn es nach Nietzsche keine Ordnungsinstanzen wie Moral oder Religion mehr gibt, bleibt einzig das Spiel als Lebensmetapher übrig, weil es konkrete allgemeine Regeln aufstellt und doch nur das Individuum in seinem Egoismus anspricht. Oder: "Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben können." Doch Glauben und damit Oppositionen wie Gut und Böse sind de facto nicht mehr vorhanden. Smutek, polnischer Einwanderer und an seiner Ehe zweifelnd, verfällt der verschlossenen Ada. Gemeinsam mit der an Impotenz leidenden Teufelsfigur (!) Alev inszenieren beide Schüler einen sich stetig wiederholenden, fotografisch dokumentierten verbotenen Liebesakt in der Turnhalle. Das Internet wird als Erpressungsmedium benutzt, in dem die Fotos per Zugangscode gespeichert sind und jederzeit zur Veröffentlichung bereitstehen. Gespielt wird nach dem Gefangenendilemma der Soziologie: welche der im Spiel gefangenen Figuren verrät die andere als erste bzw wie lange lässt sich das amoralische Spiel fortsetzen, bis es implodiert. Denn schließlich besteht laut Alev alles menschliche Verhalten nur aus "Feigheit, Dummheit und Eigennutz"; der menschliche Lebenstrieb ist auf den geringstmöglichen Widerstand ausgerichtet. Entworfen wird damit auf engstem Schulraum resp. Spielfeld eine moralische Verfasstheit der Gesellschaft, die sich vor dem Hintergrund von Kriegen, Terrorakten und Amokläufen nicht mehr in ihren eigenen Kategorien zurechtfindet. Das Treiben der Protagonisten wird damit bloßer Selbstzweck, den man nicht mehr de jure definieren kann: es ist reiner Spieltrieb.

Doch so ambitioniert dieses Vorhaben ist, so unbeeindruckend ist das Scheitern. Zehs Roman richtet sich absurderweise selbst zugrunde, das Spiel entwickelt sich nicht, in erster Linie wegen seiner erzählerischen Schwäche, alle handlungsrelevanten Figuren mit der gleichen aufdringlichen Hyperintelligenz auszustatten, dass es tatsächlich keine voneinander unterscheidbaren Figuren mehr gibt, sondern nur mehr holzschnittartige Gestalten, die sich übers Spielfeld schieben und alle das Gleiche reden. So verbleiben die geschilderten Ereignisse in völliger Leb- und damit Belanglosigkeit. Auch die als musilscher Effekt eingestreuten Witterungseinflüsse und politischen Großwetterlagen bilden für die Handlungen der Protagonisten lediglich leere Kulissen, keine musilschen Regieanweisungen, denn die Erzählerin nimmt ihnen selbst den Atem: "Die Ereignisse [am Gymnasium] steuerten unausweichlich auf die Katastrophe zu". Vollkommen egal also, ob es regnete oder schwül war. Und nicht zuletzt wirkt die erzählerische Volte, den Roman aus der Sicht einer Richterin, der "kalten Sophie", zu erzählen, die den "Fall" nicht mehr entscheiden kann, weil ihre juristischen Kategorien versagen, äußerst bemüht und eigentlich ziemlich lächerlich. Wie auch alle außerordentlich spitzfindigen Bemerkungen, die sich ewig über den schier endlosen Text ausbreiten, aufgrund ihrer Aufdringlichkeit hauptsächlich unfreiwillig komisch wirken: "Es ist ein schlechtes Zeichen für den Zustand der Welt, wenn sich Historiker von Dächern stürzen." Unabhängig, ob man dieser Art Pessimismus folgen möchte oder nicht: Dass sich der Geschichtslehrer Höfling, genannt Höfi, nicht aus übergroßer Geschichtslast, sondern aus Kummer um seine verstorbene Ehefrau umbrachte, wird geflissentlich übersehen, denn die drohende Apokalypse ist irgendwie aufregender und bietet mehr Anlass zu genialistischen Sophistereien. Was ziemlich albern ist, weil es furchtbar ernst gemeint ist. Von wegen Spieltrieb.

Dass das Lachen und philosophische Spitzfindigkeiten mit Zustandsbeschreibungen der Welt sich ganz und gar nicht ausschließen müssen, beweist hingegen Andreas Maiers Kirillow. Der leicht bis stark anarchisch veranlagte Freundeskreis um Frank Kober und Julian Nagel in Frankfurt am Main gerät durch ein Manifest eines ihnen völlig unbekannten Russen namens Andrej Kirillow in Bewegung. Dieser "Traktat über den Weltzustand", auf der im Roman angegebenen Website www.kirillow.de zu finden, negiert jegliches Vorhandensein irgendeiner politischen Systematik, sondern erklärt den Zustand der Welt mit dem bloßen Handeln aller Menschen: Alles, was getan wird, ist vollkommen grundlos, auch wenn man es mit der größten Bedeutung tut. Ein Flugzeug nach Ibiza zu besteigen bedeutet, eine ganze Industrie zu bejahen, die notwendig ist, dass es dieses Flugzeug am Flughafen gibt, das man besteigen möchte, ohne dass es irgendeine Logik gibt, die sich dieses System erdacht hätte - es gibt bloß das vollkommen grundlose Handeln der Menschen. Um dieser Grundlosigkeit, die allgemein als Wohlstand und Glück empfunden wird (oder auch auf Geburtstagsfeiern von hessischen Ministerpräsidenten als Lebenssinn dargestellt wird), durch einen konkreten politischen Akt zu entkommen, bieten sich den handelnden Figuren mehrere Möglichkeiten: entweder permanentes Trinken, das zur Schau stellen des Grundlosen (indem man z.B. Gullideckel auf Autos wirft) oder politisch aktiv werden (indem man z.B. gegen Castortransporte demonstriert). Alle drei Varianten des Anti-Statements spielt der Roman nach und nach durch, bis er in den Protesten gegen die Castor-"Zwischenlagerung" im Wendland ihren abschließenden Höhepunkt und ihre eigentliche Tragik findet.

Gebrochen - oder eigentlich erst wirklich einsichtig - wird die politische Ausrichtung des Romans durch die kreuz und quer im Text herumirrenden Russlanddeutschen, die mit der Sprachbarriere, mit den Wurstpellen (ein Running Gag) und mit der Politisierung des "Nagel-Kreises" umgehen müssen. So steht der kein Deutsch verstehende Anton Kolakow auf einer Geburtstagsfeier plötzlich vor Herrn Michels, dem hessischen Minister für Wissenschaft und Forschung, und gibt mit seiner bloßen Anwesenheit diesen der Lächerlichkeit preis: "Michels wurde immer unsicherer, denn der junge Mann vor ihm sah ihn immerfort bloß interessiert an und sagte weiterhin gar nichts. [...] Er hielt sie jetzt alle für irre." Dass diese Komik unbedingt eine tragische Klimax evoziert - oder umgekehrt das Tragische die Komik -, stellt die eigentliche kompositorische Qualität des Romans dar. Denn die Geburtstagsfeier endet mit einer unerwarteten Selbstverstümmelung, die jegliche Ordnung für einen Moment verschiebt, es gibt im allgemeinen Ablauf eine unbegreifliche Pause. Doch die Ordnung ist nach der einsetzenden Aufregung bald wieder hergestellt, denn sie besteht aus dem bloßen Handeln der Menschen. Und das meiste, was sie tun, ist - reden. Doch diese Ordnung ist bar jeder Wahrheit bzw sie ist eben die kirillowsche Wahrheit: das grundlose und unsystematische, verwirrende Reden. "Die Welt, so wie sie uns erscheint, ist ein rhetorisches Gebilde". Schon bald löst sich der durch die Selbstverletzung Kobers ausgelöste Skandal in Vielstimmigkeit und groteske Widersprüchlichkeit auf, dass letztlich das Gegenteil von dem als wahr gilt, was tatsächlich geschehen war: "Je niedriger der Informationsgehalt, desto größer waren die Gewissheiten."

Während Juli Zeh in Spieltrieb das moralische Dilemma des Weltzustandes darstellen möchte, zeigt Andreas Maier mit Kirillow überhaupt erst einmal einen Zustand von Welt, jenseits aller Moral, dafür in vielstimmiger, kaleidoskopischer Brechung und Streuung. Und nicht zuletzt mittels der Spannung von politisch-philosophischem Ernst und satirisch-groteskem Humor kann das den Roman treibende Element, das Paradox, eingefangen werden. Die Figuren, allen voran Julian Nagel, erscheinen als Gehetzte, Gejagte, Beunruhigte, Euphorisierte, die sich permanent "in einem Rausch befinden". Und eigentlich gar nicht so recht wissen, was sie tun, und damit im Prinzip ebenso grundlos handeln wie diejenigen, denen sie sich widersetzen. Ein schier auswegloses Paradox. Und zum Schluss ist auch der "Traktat über den Weltzustand" wieder vom Server genommen, so dass es zwar tatsächlich die Website gibt, aber das Kirillowsche Gesetz sich nur in den handelnden Figuren "aufgehoben" findet.

Dass die jüngere deutsche Literatur ihre politische Bedeutung wiedergefunden hat, ist einerseits beruhigend. Andererseits kann man den Romanen von Juli Zeh und Andreas Maier einen grundlegenden Pessimismus an den Möglichkeiten einer Zustandsveränderung nicht abstreiten. Während Zehs Ada und Smutek ausgerechnet nach Bosnien flüchten, um dort gänzlich frei etwas Neues zu versuchen, scheitert der "Nagelsche Kreis" Maiers an seiner eigenen Zerstreutheit, die Anti-Atomkraft-Proteste im Wendland werden zum Desaster und bedeuten das Ende dieses Kreises. Der Weltzustand scheint alternativlos.

Aber das soll erst einmal jemand behaupten.


Juli Zeh: SpieltriebAndreas Maier: Kirillow



Juli Zeh: Spieltrieb.
Schöffling & Co 2005, 650 Seiten.

Andreas Maier: Kirillow.
Suhrkamp Verlag 2005, 400 Seiten.



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© sascha preiß 2005